Das Darm-Mikrobiom - Sein Einfluss auf den Stoffwechsel ist enorm
Dass es zwischen Gehirn und Darm eine wechselseitige Kommunikation gibt, ist inzwischen erwiesen. Längst bringen Forschende das Darm-Mikrobiom mit zahlreichen Körperfunktionen in Verbindung. Als Summe aller mikroskopisch kleinen Bewohner, die unseren Verdauungstrakt besiedeln, ist das Darm-Mikrobiom wahrscheinlich ein Schlüssel zum Verständnis für das Auftreten zahlreicher Störungen und Erkrankungen. Auch in Hinblick auf Diabetes.
Der 2014 erschienene Bestseller Darm mit Charme von Giulia Enders vermittelte vielen Menschen erstmals einen gleichsam interessanten wie auch unterhaltsamen Einblick in die Komplexität und Bedeutung des eigenen Darmtrakts.
„Darm mit Charme rechnet mit der Idee ab, dass der Magen-Darm-Trakt nicht mehr ist als ein Kanal, in dem an einem Ende Nahrung und Flüssigkeit eingeführt werden, die am anderen Ende als Kötel, Würste, Diarrhö und Fürze wieder herauskommen“, schreibt Max Nieuwdorp in seinem eigenen, 2024 erschienenen Werk Achtung, Hormone. Enders zeige, wie unendlich komplex und faszinierend unser Darm ist, so der Endokrinologe aus Amsterdam, der zum Einfluss von Darmbakterien auf hormonelle Prozesse forscht.
Und was haben Hormone mit dem Darm zu tun? „Viel“, sagt Nieuwdorp: „Für ein gesundes hormonelles Gleichgewicht sind Darmbakterien unverzichtbar. Sie sind an der Ausschüttung und Produktion dutzender unterschiedlicher Hormone beteiligt. Über das zentrale Nervensystem beeinflussen Darmbakterien die Erzeugung von Hormonen und die Funktion des Gehirns.“ Außerdem, so der Forscher und Autor, seien Bakterien im Allgemeinen häufig die Quelle für die Entdeckung neuer Medikamente und immens wichtig für ein gesundes Leben!
Mithilfe von Darmbakterien den Diabetesverlauf positiv beeinflussen
Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Menschen mit Diabetes eine veränderte Darmflora (Dysbiose) aufweisen. Zunehmend gewinnen Forschende zudem Erkenntnisse darüber, wie Bakterien im Darm die Entstehung von Diabetes beeinflussen und vor allem: welche Therapiemöglichkeiten sich daraus ergeben.
Obwohl er nicht glaube, dass die Verbesserung der Zusammensetzung unserer Darmbakterien und ihrer Vielfalt alle Krankheiten dieser Welt beseitigen werde, vermute er doch, dass sich damit mehr Kontrolle über unser hormonelles Gleichgewicht gewinnen lasse, schreibt Max Nieuwdorp in Achtung, Hormone.
Interview mit Prof. Dr. Nieuwdorp
Herr Prof. Nieuwdorp, Sie forschen zum Einfluss von Darmbakterien auf endokrine Prozesse — und um es vorwegzunehmen, der Einfluss ist groß. Was weiß man darüber, was bedeutet das für die Behandlung?
Nieuwdorp: Was wir nach 15 Jahren Forschung wissen, ist, dass das Mikrobiom bei Menschen mit Diabetes verändert ist. Das ist bei vielen Erkrankungen der Fall, insbesondere bei Zivilisationskrankheiten unserer westlichen Welt. So auch bei Übergewicht und Adipositas, Herz-Kreislauf-, neurologischen und psychischen Erkrankungen. Wir sehen hier eine Reduktion der nützlichen Bakterien, deshalb haben Stuhltransplantationen auch einen Effekt – jedenfalls für einen gewissen Zeitraum. Durch die Übertragung von Stuhl eines gesunden Spenders auf einen Patienten gelangen neue nützliche Bakterien in den Darm, die dann eine Zeitlang positiv Einfluss nehmen. Hinsichtlich einer regulären Behandlung zur Veränderung des Darm-Mikrobioms, bleibt abzuwarten, welche Ergebnisse die Mikrobiom-basierten Interventionen bringen, die wir unter anderem am UMC Amsterdam entwickelt haben und jetzt testen.
Kann man Menschen mit Diabetes pauschal zu etwas raten, um den Einfluss, den ihre Darmbakterien nehmen, möglichst positiv aussehen zu lassen?
Nieuwdorp: Es ist bekannt, dass ein gesunder Lebensstil mit pflanzenbasierter, ballaststoffreicher Kost sowie regelmäßiger Bewegung und ausreichend Schlaf helfen kann, das Mikrobiom in besserem Zustand zu halten.
Also nur Anpassungen im Lebensstil?
Nieuwdorp: Lifestyle ist und bleibt ein bedeutender Faktor. Wichtig ist vor allem, die Menschen für die mögliche Gefahr von Umweltaspekten zu sensibilisieren. Medikamente, wie zum Beispiel Antibiotika, aber auch industriell verarbeitete Lebensmittel mit vielen Zusatzstoffen, Konservierungsmitteln, zu viel Zucker und Fruchtzucker werden mit einem weniger reichhaltigen Mikrobiom und einer Gefahr für die Entstehung von Diabetes in Verbindung gebracht. Dessen muss man sich bewusst sein. Ich sage nicht: Sie dürfen niemals Antibiotika einnehmen. Aber gehen Sie nicht leichtsinnig damit um. Dasselbe gilt für industriell hochverarbeitete Lebensmittel. Hier scheint es eine Verbindung zu geben und die nächsten Jahre werden zeigen, wie stark diese ist. Grundsätzlich sollten wir alle achtsam sein. Menschen, die ein Risiko für bestimmte Erkrankungen haben, vielleicht noch ein bisschen mehr als andere.
Lässt sich durch den Lebensstil das Risiko auch für Autoimmunkrankheiten, wie Zöliakie minimieren?
Nieuwdorp: Typ-1-Diabetes und Zöliakie gehen häufig Hand in Hand. Wir wissen nicht was zuerst da ist, es gibt aber große Überschneidungen – das bedeutet, dass es eine genetische Disposition geben muss und dass wir hier suchen müssen. Aufgrund der Tatsache, dass die Fälle in den letzten Jahren zugenommen haben, bin ich davon überzeugt, dass auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen, die dann zusätzlich zur Veranlagung zur Krankheitsentstehung führen. Hier kommen entzündliche Prozesse und Viren ebenso infrage wie gesundheitsschädliche Lebensmittel und Chemikalien, beispielsweise sogenannte PFAS (siehe Kasten).
Könnte die Einnahme von Probiotika hilfreich sein?
Nieuwdorp: Bei vielen Erkrankungen ist ihr Effekt leider nicht besonders groß. Das hängt damit zusammen, dass sie in der Regel von Bakterienkulturen stammen, die normalerweise nicht in unserem Darm leben. Das heißt, wenn ich aufhöre sie einzunehmen, dann lässt der Effekt rasch nach. Für Typ-1-Diabetes gibt es Belege dafür, dass Laktobazillen möglicherweise einen vorteilhaften Effekt auf den Verlauf der Krankheit haben könnten, nicht aber die Krankheit verhindern. Dies wird derzeit bei Kindern getestet, bei denen ein Typ-1-Diabetes neu diagnostiziert wurde.
Sie haben bereits Erfahrungen mit Stuhltransplantationen machen können. Könnten Sie sich vorstellen, dass dies irgendwann zur Standardbehandlung wird?
Nieuwdorp: Diese Therapieform muss dafür zunächst weniger invasiv werden. Wir haben inzwischen gemeinsam mit unseren Pharmazeuten Kapseln entwickelt, die gerade getestet werden. Meine Annahme: Für einen Teil der Patienten wird es funktionieren, für einen anderen nicht. Es gibt noch viele Unklarheiten. Wir wissen derzeit nicht, wie das optimale Einnahmeschema aussehen muss: Wer muss wie oft eine Kapsel einnehmen? Kann man Dosis oder Häufigkeit reduzieren? Das alles gilt es herauszufinden.
Es gibt ja auch unterschiedliche Mikrobiom-Typen. Ist es möglich, dass ein Darmtyp mit nicht so gutem Mikrobiom durch Einnahme solcher Kapseln zu einem anderen Darmtyp werden könnte?
Nieuwdorp: Das ist exakt das, was wir herauszufinden hoffen. Dafür braucht es große Datenmengen, also viele Patienten. Wir testen hier am UMC 2 000 Typ-1-Diabetes Patienten, vielleicht sind noch größere Kohorten (Gruppen) erforderlich. Wenn wir zum Beispiel feststellen, dass ein Risiko für Typ-1-Diabetes besteht, und wir versuchen möchten, die Manifestation hinauszuzögern, indem wir dem Patienten etwa langfristig täglich eine Kapsel mit unterschiedlichen Mikrobiomgruppen geben, dann brauchen wir: a) viele Patienten, b) die Produktion großer Mengen an Kapseln und c) Adhärenz! Wir müssen uns darauf verlassen, dass der Patient auch wirklich täglich eine Kapsel einnimmt.
Glauben Sie, dass das Mikrobiom eines Tages zur Heilung des Typ-1-Diabetes beitragen könnte?
Nieuwdorp: Ich glaube nicht, dass wir im Mikrobiom die Wunderwaffe finden, um Typ-1-Diabetes zu heilen. Typ-1-Diabetes ist eine multifaktorielle Erkrankung und das Mikrobiom ist nur ein Puzzleteil unter vielen. Neben dem Mikrobiom spielen Umwelt und Gene, Diät und Lifestyle und sicher auch etwas Pech eine Rolle. Darüber hinaus denke ich, dass es individuell unterschiedlich ist: Bei einigen Patienten mit Typ-1-Diabetes ist das Mikrobiom relevant, bei anderen nicht. Aber wir können das Mikrobiom dazu nutzen, herauszufinden, wie sich die Bakterienzusammensetzung unterscheidet, und diese Erkenntnis dazu nutzen, den Verlauf des Diabetes zu beeinflussen und in eine bestimmte Richtung zu lenken.
Wie das?
Nieuwdorp: Diabetes ist keine akute Krankheit, vielmehr handelt es sich um eine schwelende Erkrankung mit einem Verlauf, den es zu beeinflussen gilt. Bei Typ 1 bestenfalls Wochen oder Monate, bevor die Erkrankung sich überhaupt bemerkbar macht. Einen Typ 2 sieht man kommen, so etwa, wenn Menschen stark an Gewicht zunehmen und die Glukosewerte steigen. Wenn es gelingt, spezifische Mikrobiom-Eigenschaften herauszufiltern, die den Verlauf eines Typ-1-Diabetes beschleunigen oder eben verlangsamen, könnte dies dafür genutzt werden. In unserer Klinik hier in Amsterdam haben wir 2 000 Typ-1-Patienten und wir wissen, dass einer von dreien über Restinsulin verfügt. Mitunter besteht ganz am Anfang durchaus noch eine Chance, den Prozess zumindest etwas aufzuhalten, indem die Produktion von Restinsulin erhöht oder aufrechterhalten wird.
Und eine Heilung?
Nieuwdorp: Um einen Typ-1-Diabetes wirklich zu heilen beziehungsweise seine Entstehung abwenden zu können, müssen wir ihn viel früher entdecken. Und zwar vor der Manifestation, also bevor sich Symptome zeigen, die die Krankheit deutlich erkennbar machen. Wir müssen die Leute finden, bevor sie ihre Diagnose erhalten und dafür müssen wir intensiv und umfassend testen. Ich bin sicher, dass das möglich wäre, allerdings braucht es noch die richtigen Diagnose-Werkzeuge.
Sie meinen so wie die frühkindlichen Screenings Fr1da, Fr1dolin, Freder1k, die in Deutschland in einigen Bundesländern durchgeführt werden?
Nieuwdorp: Ja, genau. Aber eben nicht nur für Kinder, die erblich vorbelastet sind. Ich habe viele Patienten aus Familien, in denen bislang kein Diabetes bekannt war. Wir brauchen ein Screening für alle Kinder in den Vorsorgeuntersuchungen (in Deutschland die U1 bis U9).
Für Schlagzeilen sorgten jüngst Medikamente, die die Funktion von GLP-1 nachahmen. In welchem Maß beeinflusst das Darm-Mikrobiom die Ausschüttung von GLP-1?
Nieuwdorp: GLP-1 ist ein Hormon, das in spezifischen Zellen der Darmwand produziert und abgegeben wird, wenn wir etwas essen. Das Mikrobiom ist zwar selbst auch in der Lage, GLP-1 zu produzieren, hat aber keinen großen Einfluss auf die in der Darmschleimhaut (deutlich höhere) produzierte Menge. GLP-1 hat Einfluss darauf, wie viel wir essen, und es zeigt hervorragend, wie bedeutend eine Substanz, die im Darm produziert wird, für unser Wohlbefinden ist. Und welche Wirkung sie etwa auf Diabetes und Übergewicht hat.
Hat GLP-1 auch Einfluss bei Typ-1-Diabetes?
Nieuwdorp: Hier sind wir etwas zögerlich, weil wir gesehen haben, dass es auch das Risiko für eine Ketoazidose erhöhen kann. Deshalb kommt es auch nicht standardmäßig zum Einsatz. Doch während Übergewicht bei Typ-2-Diabetes seit jeher häufig ist, nimmt es auch bei Menschen mit Typ-1-Diabetes zu. Daher denke ich, dass es sinnvoll wäre, zu prüfen, inwieweit GLP-1 auch bei Typ 1 helfen könnte, Therapieergebnis und glykämische Kontrolle zu verbessern und Komplikationen zu reduzieren.
Auch entzündliche Prozesse werden durch unsere Darmbewohner negativ oder positiv beeinflusst. Diese Beeinflussung spielt auch bei Diabetes eine Rolle, insbesondere für das Herz-Kreislauf-System, richtig?
Nieuwdorp: Ja, ein Mikrobiom mit geringer Vielfalt und einer Überzahl an pathogenen (also krankheitserregenden) Bakterien wie E.Coli kann verstärkt zu entzündlichen Prozessen führen.
Die Frage ist: Wie werden wir diese Pathogene los, um weniger Entzündung zu triggern? Gibt es Möglichkeiten?
Nieuwdorp: Nun, zum einen kann eine Ernährungsumstellung helfen, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Aber auch hier gilt zu beachten, dass der Darm zwar eine Rolle spielt, aber eben nicht die einzige. Auch Fettzellen im Körper triggern Entzündung, ebenso wie autoimmunogene Prozesse. Es gibt multiple Wege, die zu chronischen Entzündungen führen können. Wir müssen verstehen, welchen relativen Beitrag jeder einzelne Faktor leistet.
Unser Darm und seine Bewohner beeinflussen auch unsere Psyche und Stimmung. Führt ein Gleichgewicht der Darmmikroben zu einem hormonellen Gleichgewicht?
Nieuwdorp: Warum Menschen depressiv werden, ist noch nicht ganz verstanden. Wir wissen, dass eine ungünstige Zusammensetzung unseres Mikrobioms mit einem Risiko für entzündliche Vorgänge verbunden ist, die ihrerseits mitverantwortlich für eine Depression sein können. 50 Prozent aller Menschen mit Diabetes haben ein erhöhtes Risiko für eine Depression. Ein Grund dafür können auch Blutzuckerschwankungen sein. Wenn das Diabetes-Management nicht optimal und die Blutzuckerwerte dauerhaft erhöht sind, steigt die Anfälligkeit für Infektionskrankheiten (Viren, Pilze, Bakterien). Aber auch ein gestörter Stoffwechsel an sich und das Wissen darum, dass man eine chronische Erkrankung hat, spielen eine Rolle. Für manche Menschen stellt das eine große Belastung dar. Es ist ein multifaktorielles Geschehen. Es gibt nicht nur die eine Ursache.
Deshalb sollten unterschiedliche Fachbereiche mehr zusammenarbeiten, richtig?
Nieuwdorp: Ja, unbedingt. Wenn ein Patient an Depressionen leidet, sollte nicht nur der Psychotherapeut einen Blick darauf haben. Wenn der Patient Diabetes hat, sollte nicht nur ein Internist oder Diabetologe zu Rate gezogen werden. Es müssen andere Fachbereiche eingebunden werden, um komplexe Erkrankungen wie Diabetes besser zu verstehen. Ein Nachteil unserer westlichen Medizin ist, dass wir zwar hoch spezialisiert sind, aber wir haben mitunter den Kontakt zu anderen Fachbereichen verloren. Für eine optimale Therapie von Menschen mit Diabetes und eine mögliche Prävention müssen wir mehr zusammenarbeiten.
Herr Professor Nieuwdorp, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.